Welscher Tand
Eike Christian Hirsch, Mehr Deutsch für Besserwisser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1979. Lizenzausgabe Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München 1988.
Seine Visage wirkte blasiert und arrogant, der ganze Typ war manieriert und affektiert. (Er war ein Deutscher, aber wenn wir uns abfällig äußern wollen, greifen wir zu französischen Wörtern.) Banal, ordinär und borniert war dieser Ignorant, dieser mondäne, parfümierte und doch raffinierte Filou. Auf deutsch gesagt, er war ein Ekel. Aber wer sagt es denn auf deutsch? Mir tun die Franzosen leid, von denen wir vor allem die unschönen Wörter übernommen haben. Sogar aus guten Wörtern (z. B. Visage) haben wir Schimpfwörter gemacht.
Wollen wir uns über ein Unglück lustig machen, so nennen wir es ein Malheur, eine Malaise oder sprechen von Kalamitäten. Diese Wörter bezeichnen im Französischen wirkliches Unglück, bei uns aber sind sie in ironischem Gebrauch. Die Courage kann sich nicht mit dem deutschen Mut messen, die Blamage (die es auf französisch gar nicht gibt) nicht mit der Schande, die Revanche nicht mit der Rache und das Prestige nicht mit unserer Ehre. Den deutschen Wörtern ist die echte, die ernste Bedeutung vorbehalten. Wer auf seine Reputation achtet und über einen Affront indigniert ist, wird bei uns nicht ganz ernst genommen. Wegen eines (deutschen) Fehlers muß man sich schämen, bei einem (französischen) Faux-pas nur genieren. Ein deutsches Lob ist immer willkommener als alle französischen Komplimente. So ist das. Man könnte darüber ganz malade werden.
Den welschen Tand hat man uns ausgetrieben und hat dem alten Erbfeind keinen würdigen Platz gelassen. "Regime" ist ein Schimpfwort geworden wie "Bourgeois". Eine Affäre ist bei uns so häßlich wie eine Kampagne, obwohl auch diese Wörter ursprünglich einen guten Sinn haben. Cliquen schmieden Komplotts, ihre Komplicen landen einen Coup, deren Konsorten spinnen Intrigen, und ihre Agenten kennen auch nur Schikanen. Es werden Sanktionen und Repressalien verhängt, und jeder verhilft seinem Protegé mit allen Finessen zu einer Karriere. Die finsteren Mächte tun hier alles scheinbar am liebsten auf französisch: Sie agitieren und kollaborieren, sie konspirieren und kaschieren, sie düpieren und desavouieren. Und auch wenn sie nur arrangieren und reglementieren, paktieren und fraternisieren, hat das bei uns einen bösen Beigeschmack. Die Presse schimpft man eine journaille (heißt: Tagesarbeit), und die Zeitungen nennt man Gazetten, wenn man sie kränken will. Das Französische ist auch gerade gut genug, die Halbwelt (Demimonde) zu beschreiben, weil diese Wörter alle Hautgoût haben. Die Mätresse und der Bonvivant sitzen beim Rendezvous im Salon des Etablissements, die Kokotte mit dem Gourmand im Chambre séparée des Kabaretts. Er ist ein Hasardeur mit Brillantine, sie zeigt Dessous und Dekolleté. Sie animiert ihn, er macht ihr Avancen. Er liebt dies Milieu zwischen Revue und Massage, da paßt es, daß ihr Metier das Amüsement ist. Sollte das alles Inbegriff des französischen "Savoir vivre" sein?
Als die deutschnationalen Sprachreiniger einst darangingen, uns das französische Fremdwort auszutreiben, haben sie es in ihrer Infamie dort stehenlassen, wo es dem Nachbarn jenseits des Rheins nur schaden konnte. Zwar achten und lieben wir die Franzosen seit es die Bundesrepublik gibt, aber seither ist leider kein neues Wort von ihnen bei uns heimisch geworden.
Die Engländer mochten wir schon immer. Von ihnen nahmen wir so schöne Worte wie "fair play" und "common sense".
Raus mit dem welschen Plunder - zur Frankophobie im neudeutschen Journalismus
Stefan Zenklusen
Reflexion & Widerstand
Jahrzehnte sind es bereits her, seit der Schweizer Journalist, Historiker und Schriftsteller Niklaus Meienberg ironisch für die Aufhebung der Auslandskorrespondenz plädierte. «La France, revue et
corrigée par Zurich et Washington», umschrieb er spöttisch die Praxis der Neuen Zürcher Zeitung, über Frankreich nach dem Schema X des angelsächsisch inspirierten Wirtschaftsliberalismus zu
berichten. Seit dem Mauerfall und mit dem Triumph der ultraliberalen Einheitslehre hat sich dieses Deutungsmuster in einer weitgehend monopolisierten Medienlandschaft endgültig durchgesetzt.
Medial ist der Postfordismus die ideologische Epoche schlechthin. Genau weil es nur noch eine unanfechtbare Ideologie gibt, muss unablässig das Ende der Ideologien verkündet werden. Die Zeiten
der Tucholskys und Meienbergs sind vorüber. An deren Stelle sind die Diener der Mediokratie getreten, die als Vertreter des sozialen und kommunikationstechnischen Feldes der «Publizistik» die
Illusion inhaltlicher Neutralität erzeugen. Der Meinungsjournalismus sei, so wird verkündet, dem nüchternen Recherchierjournalismus gewichen. Doch offenkundig verfällt das aseptische Machertum
noch stärker den gerade angesagten Ideologemen.
Der Abschied vom keynesianisch inspirierten Rheinischen Kapitalismus hat einen neuen Typus des autoritären Charakters hervorgebracht (von Uli Krug in Bahamas 31/2000 hervorragend beschrieben),
dessen zentraler Zug der Antietatismus ist. Der «wuchernde Staat» ist zum neuen Feindbild avanciert, mitsamt seinen Attributen: dem «Steuervogt», dem «Zentralismus», der «Bürokratie», dem
«Luxusbeamten», dem «Sozialschmarotzer». Wird das Feindbild ins Ausland verlegt, entstehen von denjenigen Staaten, die sich (real oder fiktional - der Mechanismus samt seiner Inhalte ist dem
Antisemitismus nicht unähnlich) der rigorosen Einheitsdoktrin widersetzen, klischierte und gehässige Charakterisierungen.
«Frankreich» (oder was dafür gehalten wird) ist eine solche Projektionsfläche. Ob Liberale, Rechtspopulisten wie Haider und Blocher, oder die Grundwertekommission (sic!) der SPD (Bericht vom
15.9.1999) - man scheint sich darin einig zu sein, dass «Paris» ein Hindernis ist auf dem Weg zu einem regional strukturierten Manager-Europa, in dem der Staat auf seine Nachtwächterfunktionen
reduziert ist. Seit längerem bietet die Frankreich-Berichterstattung mithin ein Terrain, auf dem die doktrinären Facetten des Neuen Liberalismus erforscht werden können. In Deutschland selber
vermengt sich der wirtschaftsliberale Autoritarismus inzwischen mit dem wiedererlangten Selbstbewusstsein der Berliner Republik. Immer unverhohlener spricht aus dem Nörgeln über die angeblich
korsettierten französischen Zustände die Lust daran, das westliche Nachbarland vom «Thron seiner Grossmachtträume» (Der Spiegel 37/1995) herunterzuholen.
«Staatsinterventionismus» ist im Laufe der Neunziger zum Pfui-Wort schlechthin geworden, das darunter Befasste zum Tabu, wie die entblösste Titte dem Puritaner. Die NZZ, veritable Prawda des
Kapitals, verabschiedete sich von der vormals geltenden Lehre eines Wilhelm Röpke und verficht seither Friedrich August von Hayeks Liberalismus ohne Adjektiv. Seitdem gelten Bindestrich-Liberale
bereits als links. Es war absehbar, dass in dieser Atmosphäre medialer neoliberaler Hirnwäsche das French-Bashing zum Hobby von Galle spuckenden Schreibtischtätern würde. Und tatsächlich:
Extrapolierte man, was in deutschsprachigen Landen in dieser Zeit teilweise über Frankreich verbreitet wurde, auf die Gegenwart, so müssten wir es heute mit einem sowjetisch anmutenden,
isolationistischen, nationalistischen, pauperisierten und ökologische kaputten, klinisch toten Gebilde zu tun haben. Schliesslich muss es mit einem Land, in dem selbst einem gewissen Teil der
Rechten der Deregulierungs-Ukas der Chicago-Schule schnuppe ist und «jeder vierte Beschäftigte aus dem Staatssäckel besoldet wird» (Tagesspiegel, 16.2.2000), ein schlimmes Ende nehmen. Als ob der
Kapitalismus eine einzige Success-Story der zunehmenden Prosperität durch Freihandel und schlanken Staat wäre. Den Zeithorizont eines Kleinkindes anzunehmen (zurück und nach vorne), ist erstes
Gebot des postfordistischen Wirtschaftsjournalismus.
Die Projektionsmechanismen des neoliberal-autoritären Charakters funktionieren wie gehabt. Dem, was man sich selber antat, sollen auch die anderen nicht entgehen: «Wir haben uns angepasst, den
Gürtel enger geschnallt, die Rezepte der wirtschaftstheoretischen Führerkaste beherzigt. Dem Franzmann soll es nicht besser gehen.» Wer, den Eid aufs Blair-Schröder-Evangelium verweigernd, des
Jospinismus' bezichtigt wird, kann denn auch seine Karriere als Sozialdemokrat an den Nagel hängen. Denn mit Jospin kehren (trotz der unvergleichlichen Privatisierungswelle) mit den
Arbeitsbeschaffungsmassnahmen und der 35-Stunden-Woche die perhorreszierten keynesianischen Geister zurück. Vade retro, Satanas!
Mit dem Ewigvorwurf des Zentralismus etwa wird allerhand Schabernack getrieben. Die Korsikafrage wird nicht selten als Kolonialverhältnis abgehandelt. Eine im Sommer 2000 Korsika gewidmete
Sendung des ZDF insinuierte nicht nur, es bestehe eine quasi-imperialistische Relation einer unverständigen Zentralmacht zu einem freiheitliebenden Inselvolk, sondern behauptete auch, Paris habe
die korsische Wirtschaft bewusst ruiniert. Die auf der Strasse und Plätzen befragten Leute äusserten sich allesamt negativ über Jospins Matignon-Abkommen, bezeichneten die Abgeordneten des
Regionalparlamentes als «von Paris Gekaufte» und/oder verlangten mehr Autonomie oder gar die Unabhängigkeit. Mit der Komplexität der Korsikafrage hat diese tendenziöse Fernsehbastelei nicht das
Geringste zu tun. Denn weder wurden darin die mafiösen und faschistischen Tendenzen gewisser nationalistischer Gruppierungen erwähnt, noch die Tatsache, dass sich in Umfragen noch nie mehr als 10
Prozent der Korsen für die Unabhängigkeit aussprachen.
Man verstehe richtig: Es soll hier keineswegs dem Zentralismus das Wort geredet werden. Einzig, dass seine Pauschalverurteilung (in der sich Grüne und Ultraliberale gerne treffen) vor allem als
Aspekt der neoliberalen Mediengleichschaltung (wie sie Noam Chomsky und Pierre Bourdieu diagnostizierten) und der blinden Föderalismusverherrlichung zu verstehen ist, , soll angedeutet werden.
Welche Garantien gibt es, dass sich der Zentralismus auf regionaler Stufe nicht reproduziert? Ist es Zufall, dass die protestantischen Sekten in den USA ultraföderalistisch eingestellt sind und
sich der Vatikan für die Regionalisierung in der EU begeistert? Am Ende ist der Pariser Zentralismus dem neueuropäisch-feudalkapitalistischen Regionalismus, seinen Lokalmatadoren und seinem
Identity-Wahn noch vorzuziehen.
Die «renommierte», sogenannt «linksliberale»Weltwoche entblödete sich letzten Herbst nicht, die französische Regionalküche, da vom Pariser Wasserkopf aufgesogen, für inexistent zu erklären
(21.9.2000). Französische Gastronomie, so der Lebensart-Journalist, beschränke sich auf die Haute Cuisine, die sich die pseudo-aristokratischen Franzosen in Restaurants servieren liessen, die mit
absolutistischem Prunk vollgestopft seien. Auch der Hinweis auf beflissen-arrogante Kellner durfte natürlich nicht ausbleiben.
Demgegenüber ist zunächst festzuhalten, dass die regionale Küche in Frankreich ihre Vitalität längst wieder erlangt hat. Was der Schreiberling herbeipolemisiert, mag in den Sechzigern bis zu
einem gewissen Grad der Fall gewesen sein - was dreissig Jahre zurückliegt, wird als aktuell ausgegeben. Dass es aber überhaupt möglich ist, eine Autostunde vom Elsass entfernt einen solch
hochgradigen Schwachsinn zu schreiben, bedarf weiterer Erklärungen.
Der sonst eher für Seichtes bekannte Gastrokritiker Wolfram Siebeck bemerkte einmal treffend, die kulinarische Italophilie der Deutschen sei wohl darauf zurückzuführen, dass diese allein schon
beim Anblick eines französischen Kellners aus Angst vor einer Blamage erstarrten - da könne man einem Trattoriabesuch schon viel lockerer entgegensehen. Siebeck hat damit durchaus etwas
Tiefersitzendes angetippt. In deutschen und britischen Gefilden scheint nämlich noch immer die Auffassung verbreitet zu sein, Romanen hätten primär als fröhliche Wein- und Speiselieferanten zu
fungieren. Erfüllen sie diese Erwartungen nicht und leisten sich erst noch einen starken Staat mit Mittelmachtanspruch, werden sie unheimlich und arrogant.
Ein Letztes zum Vorwurf des «Pseudoaristokratischen». Ihn ausgerechnet gegenüber Ländern zu erheben, die eine sophistizierte Speisekultur besitzen, ist deswegen absurd, weil sie ja eh über den
«Grundstoff» verfügen, das heisst es also weit weniger nötig haben, das Essen in kulturelles Kapital umzusetzen. Wenn es der Musterbeispiele in Sachen Gastrofetischismus bedarf, dann sind sie
weniger im diesbezüglich «pragmatischen» Paris oder Lyon zu finden, sondern bei den Yuppies und der Grossbourgeoisie Zürichs, Münchens und Berlins. Einmal mehr gilt: Eigene Macken projizieren wir
ins Nachbarland hinein; die anderen sind die Blöden!
Von solchen Projektionsmechanismen scheint auch etwas auf, wenn ebenso süffisant wie unverdrossen die «Normalisierung» Frankreichs gewürdigt wird. Die NZZ begrüsst schulterklopfend die «langsame
Umstellung von Frankreichs Uhren auf Weltzeit» (18.2.2001). Reichlich unverfroren von Seite des Vorzeigeblattes eines Landes, das vor 30 Jahren erst das Frauenstimmrecht einführte. Doch solches
ist auch nicht gemeint, vielmehr: die abnehmende Widerständigkeit gegenüber der wirtschaftsliberalen Einheitsdoktrin, deren Propagierung die Stahlhelmfraktion von der Falkenstrasse zum
Tagesgeschäft erhoben hat.
Das unüberprüft tradierte Klischee vom «Chauvinismus» und «Nationalismus» kann auch bis ins Phantastische aufgeblasen werden. Rudolf Augstein scheint sich wieder als kriegslüsterner Pimpf zu
fühlen, wenn er Jacques Chirac «à la de Gaulle gegen den Rest der Welt» handeln sieht (Der Spiegel, 37/1995) und halluziniert, Frankreich wolle Europa und Deutschland «am Leitseil führen» und
«Deutschlands Wirtschaftskraft schwächen» (51/1995).
Der «Frankreichspezialist» und stellvertretende Chefredaktor der ominösen Weltwoche, Oliver Fahrni, prophezeite in einem Frontartikel die Faschisierung Europas vom Westen her (26.3.1998). Eine
solche schon fast paranoid anmutende Einschätzung wirkt vollends ubuesk, umso mehr, als sie in eine Zeit fiel, wo die mittlerweile zur stärksten Partei der Deutschen Schweiz avancierte
Schweizerische Volkspartei SVP auf dem Höhepunkt ihrer rassistischen Inserate- und Plakatkampagnen war. Die Bildersprache, welche dabei zur Verwendung kam, liesse wohl selbst Haider oder die
Leute vomVlaams Blok erröten. Wenn inmitten der grössten Erfolgsphase des Rechtspopulismus im eigenen Land eine Deutschschweizer Zeitung vor dem Aufmarsch des französischen Faschismus warnt,
erheischt die fällige Medienkritik eher psychoanalytische als politologische Kategorien. Denn nicht nur hat der Front National niemals die Wirkungsmacht einer SVP in der Ostschweiz oder der FPÖ
in Österreich erlangt - er hatte in der zweiten Hälfte der Neunziger seinen Zenit überschritten. Sondern gerade die Franzosen befinden sich in der beneidenswerten Lage, nicht täglich vom
nationalpopulistischen Gegeifer nach dem Muster britischer Tabloids oder der Bild-Zeitung angemacht zu werden. Man muss kein scharfsinniger Beobachter rechtsextremer und rassistischer
Entwicklungen im Europa nach dem Mauerfall zu sein, um das Offensichtliche festzustellen. Wenn es denn eine Flanke der Faschisierung gibt, dann ist sie mitteleuropäisch. Das Lega- und
Forza-Italia-dominierte Norditalien, wo in gewissen Städten aus Angst vor der Rache rassistischer Fanblocks auf den Einsatz schwarzer Fussballspieler verzichtet wird, über die rechspopulistischen
Alpenfestungen Deutschschweiz und Österreich hinauf in die Neuen Bundesländer mit ihren National Befreiten Zonen: Die Achse Verona-Berlin steht.
Der beständig an die Franzosen gerichtete Nationalismus- und Chauvinismusvorwurf übernimmt mithin klassischeAbleitungs- und Verdrängungsfunktionen. Je verbreiteter populistische und rassistische
Integrismen vor der eigenen Haustüre sind, je mehr bedarf es eines nationalistischen Miesepeters: im Osten die Serben, im Westen die Franzosen.
Selbst das relativ freizügige französische Einbürgerungsrecht ist nicht vor der Herablassung der germanophonen Journaille gefeit. Allenthalben wurde die Naturalisierungspraxis nach den
Fussballerfolgen als Profitcenter für den Sport umgedeutet. Die Franzosen hätten sich ihre Spieler «eingekauft», so etwa der Tenor, um ihre Elf damit ethnisch aufzufrischen. Sich selbst
übertroffen in dieser Darstellungsweise hat sich die Sport-Bild in der ersten Ausgabe nach dem Fussball-EM-Endspiel vom 2.7.2000 . Sie erstellte eine Liste mit der Überschrift: «Woher kommen die
französischen Spieler?» Ergebnis: 11 «falsche» und 9 «echte» Franzosen. Macht 20. Die zwei Basken Deschamps und Lizarazu wurden als «Grenzfälle» bezeichnet. Dass bei solcher Art der
ethnizistischen Identitätszuweisung auch alle Okzitaner, Bretonen, Elsässer eigentlich als «Grenzfälle» gelten müssten, übersah der Bild-Ethnologe. Interessant auch, dass der Portugal-Stämmige
Pires als echter Franzose gewertet wurde, im Gegensatz zu allen Schwarzen aus den Überseedepartementen, die von Geburt an über alle Bürgerrechte verfügen. Dass Frankreich im Gegensatz zu
Britannien nicht zwischen «Nationals» und «Citizens» unterscheidet, scheint sich noch nicht herumgesprochen zu haben. Der in Paris aufgewachsene Antillaner Thuram, von Bild als «falscher
Franzose» apostrophiert, ist eben «französischer» als Pires. Aber das geht dem Germanen, der die ganze Welt durch die Brille des Blut- statt des Bodenrechts sieht, nicht in den Kopf. Ein Neger
kann nun mal kein echter Franzose sein, basta.
Es traf eben auch solche Denkgewohnheiten, als der Linksjakobiner und Ex-Minister Chevènement Joschka Fischer für seine EU-Pläne rüffelte und deklarierte, die Nation und nicht das Volk habe die
basale Entität des zukünftigen Europas zu sein. Es wäre zumindest an der Zeit, über problematische Implikationen des Ethno-Kommunitarismus zu diskutieren, statt Figuren wie Chevènement als
«notorische Provokateure» (Spiegel-Online, 22.5.2000) abzutun.
Erleichterte Einbürgerung als Eigennutz... Diese Auslegung ist eine geschickte rhetorische Kamouflageaktion, die die deutschen Probleme mit der doppelten Staatsbürgerschaft in den Hintergrund
rückt. Ganz zu schweigen von den willkürlichen Zuständen in der Schweiz, wo die Gemeinde für Einbürgerungen verantwortlich zeichnet. In gewissen Kommunen werden Steckbriefe (auf denen selbst das
steuerbare Einkommen aufgeführt ist) der einbürgerungswilligen Ausländer mit den weiteren Abstimmungsunterlagen verschickt. In geheimer Wahl wird dann planmässig den Jugoslawen und Türken die
Einbürgerung verweigert, auch wenn sie seit 30 Jahren hier wohnhaft sind. In der Schweiz nennt sich dies «direkte Demokratie» - den «Faschismus» gibt's schliesslich nur anderswo, nicht?
Es ist nichts Neues, dass die konservative Revolution alles und jedes, was sich den Gegenreformen nicht augenblicklich fügen will, mit dem Anathema der weltfremden Rückständigkeit belegt. Ob in
der FAZ oder der NZZ: Wenn sich Frankreich (zusammen mit Kanada) an die Spitze der Gegner des Multilateralen Abkommens zur Investition MAI stellt, liegt das in erster Linie an der
protektionistischen Angst vor dem Freihandel. Die KPF ist selbstverständlich eine nationalkommunistische Partei von vorgestern. Die streikenden Bahnangestellten sind privilegierte Beamte (mit
10'000 Francs Lohn im Monat!) und dokumentieren, was man sich mit der Aufblähung des Staates einhandelt. Und auch für weite Teile der deutschsprachigen Linken handelt es sich beim
Kleinbauernsyndikalisten José Bové um einen dubiosen Antiamerikaner - wie wenn er die französische und EU-Landwirtschaftspolitik nicht genauso bekämpfte. Kurz: Alles Globalisierungsskeptische und
Gegenreformfeindliche entspringt quasi naturgesetzlich provinziellem Chauvinismus, der die Zeichen der Zeit nicht erkennen will.
Die angebliche Zurückgebliebenheit muss irgendwann mal auch kulturelle Folgen zeitigen. Die Zürcher Sonntagszeitung berichtete am 1.2.1998 über die erstaunlichen kommerziellen Erfolge des
französischen Pop. Dies sei umso verwunderlicher, so hiess es, als die dortige U-Musik sich bis anhin grosso modo auf Figuren wie Jean-Jacques Goldmann, Johnny Holliday und Serge Gainsbourg (der
sowieso mehr heiserer Lüstling als Musiker gewesen sei) beschränkt habe und insgesamt belanglos gewesen sei. Selbstverständlich ist eine solche Beurteilung spätestens seit den achtziger Jahren
ein reiner Schmonzes. Wiederum entsteht der Eindruck, die Rückständigkeit und Inkompetenz des Autors übertrage sich auf den Untersuchungsgegenstand. Doch augenscheinlich ist Recherche gar nicht
gefragt. Vielmehr geht es darum, dem Land, dessen kultureller, politischer und sozioökonomischer Habitus noch immer von den anglogermanischen Patterns abweicht, ein Defizit in allen Belangen
anzukreiden.
Die auf den Concorde-Absturz einsetzende Häme über das gallische «Prestigedenken» (FAZ, 17.1.2001) und den «blinden Zukunftsfrohsinn» (Der Tagesspiegel, 17.8.2000) war absehbar und inhaltlich
sicher weitgehend berechtigt. Nur hat der mechanisch wiederkehrende Vorwurf des Grössenwahns im neoliberalen Kontext längst einen pseudokritischen Charakter angenommen, der sich bei näherer
Prüfung als reine Ideologie entpuppt. So spottete der Ökonom Thomas Schenk in einem grösseren Artikel mit dem Titel «Die Eitelkeit der "Grande Nation"» (Basler Magazin 48/2000) unter anderem über
den rote Zahlen schreibenden Schnellzug TGV. Unerwähnt blieb dabei freilich, dass diese Bilanz hauptsächlich auf den ausbleibenden Exporterfolg des TGV zurückzuführen ist, der wiederum mit der
Austeritätspolitik von Ländern zusammenhängt, die dem Zug durchaus nicht abgeneigt wären, ihn sich aber nicht leisten können.
Solches kann sich der Wirtschaftsliberalismus aber nicht eingestehen. Im Gegenteil: Nicht die US-amerikanischen und australischen Staaten, die trotz Interesses wegen ihres Budgets, das nur einen
erbärmlichen öffentlichen Verkehr erlaubt, schliesslich auf den Kauf des Zugs verzichteten, seien das Problem ? mit ihnen stehe es gut, sie liessen sich, so offenbar die Meinung, mit etwas
«Kreativität» schon ökologisch umfunktionieren. Schuld habe vielmehr der Schnellzug selber und dessen «megalomanisch-etatistische» Projektierung.
Der von Napoleon geprägte, heute aber ungebräuchliche Ausdruck «Grande Nation» erscheint in der Frankreichberichterstattung so sicher wie das Amen in der Kirche. Ohne Explikation wird dem Land
gleichsam intrinsisch, wie in einem analytischen Urteil, Nationalstolz und überrissene Ambitionen untergeschoben. So wird von vornherein das diffuse Negativurteil antietatistischer Liberaler und
antinationaler Linker und Grüner bedient, zugleich aber auch die Deutschnationalen bestätigt, die dann sagen dürfen: «Die Franzosen lassen keine Gelegenheit aus, ihren Nationalstolz zu bekunden,
weshalb nicht auch wir?»
Besorgniserregend dürfte auch die Reproduktion der frankophoben Beurteilungsmuster auf der «niedrigeren Ebene» der Westschweizcharakterisierung durch Deutschschweizer Medien sein. Der
Westschweizkorrespondent der NZZ liess sich ernsthaft zur Behauptung hinreissen, die Welschen lehnten sich an den «Etatismus von Colbert bis de Gaulle» an, der die Befürwortung eines «starken
Zentralstaates» (9.12.2000) impliziere. Nun braucht es keine profunden Kenntnisse, um zu wissen, dass sich in Genf, Lausanne oder Neuenburg kaum jemand für den Gaullismus oder den Zentralismus
(ausgerechnet!) begeistern mag. Wenn es also ein völliger Schmus ist, wozu dient er? Ganz einfach: Dem sozialstaatsfreundlicheren Abstimmungsverhalten der frankophonen Schweizer (die
Mutterschaftsversicherung beispielsweise wurde voriges Jahr gesamtschweizerisch abgelehnt, im Welschland aber angenommen) soll durch die Behauptung, es sei etatistisch-französischer Provenienz,
also gleichsam unschweizerisch, die Eigenwertigkeit genommen werden.
Am 17.9.2000 frotzelte der deutsche Kommunikationsfachmann Klaus Stöhlker in der sonntäglichen Schwatzsendung der privaten Fernsehstation Tele 24, wo er Stammgast ist: «Ich habe diese ewige
Gejammer der Welschen satt. Sie sollen gefälligst mehr leisten.» Damit stellte Stöhlker nicht nur unter Beweis, wes psychagogischen Geistes seine «Kommunikation» ist, sondern auch, dass der
Rückgriff auf germanische Völkerpsychologie (hier das Bild des schlampigen, arbeitsscheuen Welschen) wieder salonfähig geworden ist. Haben wir sie wieder, die gute alte Zeit...
Zürich, März 2001
Michael Nerlich -11. Februar 2000 - Wie uns Frankreich abhanden kam
Der Höhepunkt des Klemperer-Jahres 1999 dürfte am 27. November erreicht worden sein, als in einem Beitrag zum ZDF-Länderspiegel über das Weihnachtsfest auf dem Dresdner Strietzelmarkt verkündet wurde, es sei so schön, dass es scheine, Victor Klemperer müsse "gleich um die Ecke kommen." Womit hat der Mann das nur verdient?
Doch die Unfähigkeit zu adäquatem Umgang mit Klemperer findet sich nicht nur auf der Ebene populärer Rezeption wie der soap-opera, die die ARD unter seinem Namen ausgestrahlt hat. Dass "die öffentliche und internationale Aufmerksamkeit" "eher" Klemperers Tagebüchern "als seinen literarhistorischen Arbeiten gilt", wie Peter Demetz in der FAZ vom 12. August 1999 anmerkt, ist jedenfalls ein doppelter Euphemismus. Denn würden die Tagebücher unvoreingenommen aufgearbeitet, würde evident, dass sie auch Werkstattberichte des Literaturhistorikers sind. Davon aber erfährt der Leser aus den Besprechungen nichts, denn für den Wissenschaftler Klemperer interessiert man sich im vereinten Deutschland nicht nur "weniger", wie Demetz suggeriert, sondern man denunziert ihn, wie man ihn vor den Nazis, unter den Nazis und nach 1945 in Deutschland-West denunziert hatte. So dekretiert Hans-Martin Gauger, Professor für romanische Sprachwissenschaft, in der FAZ vom 24. August 1999, dass Klemperer auf Grund seiner Tagebücher zwar "ohne Zweifel ein beträchtlicher Schriftsteller", "als Romanist" aber "nicht sonderlich bedeutend" gewesen sei, ja, nicht einmal zur "zweiten Reihe" gehört habe, infolgedessen auch kein "Großer" seines Faches, sondern "das Gegenteil", also ein ganz Kleiner gewesen sei: "was man doch einmal sagen muss". Stimmte, dass Klemperer nur ein ganz Kleiner aus der "zweiten Reihe" gewesen sei, wäre absolut nicht einzusehen, warum sich die westdeutsche Romanistik mit ihm hätte beschäftigen sollen. Aber Gaugers gleichzeitiges, enthusiastisches Lob von LTI beweist, dass er die Unwahrheit sagt.
Es müssen also andere Gründe sein, die bewirkten, dass man Klemperer als Romanisten nicht zur Kenntnis nahm und nimmt. Als ich 1972 in Das Argument die erste Bilanzierung der Romanistik unter den Nazis vorlegte und dabei - unter anderem im Rückgriff auf LTI - Klemperer positiv von Mitmachern wie Eduard Wechssler, Mitläufern wie Hugo Friedrich und Opportunisten wie dem Mussolini-Anhänger Ernst Robert Curtius abgrenzte, brach jedenfalls ein Empörungssturm in der westdeutschen Romanistik los, der in Rufen nach Psychiater und Amtsenthebung, aber auch in offener Denunziation Klemperers seine Höhepunkte fand: 1980 erschien in Bonn ein ganzes Buch für Curtius und gegen Klemperer und mich unter dem Titel Ernst Robert Curtius und die deutsche Romanistik der zwanziger Jahre.
Das kann bei genauerem Nachdenken freilich nur den überraschen, der vergessen hat, dass Deutschland seit 1806 in einem von Anfang an rassistisch-antisemitisch eingefärbten, antiaufklärerisch-antirepublikanischen "Erbfeind"-Taumel gelebt hat, der in den Haßorgien gegen den - wie Hitler in Mein Kampf im Chor mit Tausenden anderen sagte - jüdischen "Mulattenstaat" Frankreich beziehungsweise den Versailler Vertrag seinen hysterisch-kollektiven Höhepunkt erreichen sollte. Die Romanistik aber war nicht nur die Wissenschaft von Frankreich in jenem Deutschland, das sich selbst - in wechselnder Gestalt - sukzessive immer intensiver über die Negation des französischen "Erbfeindes" und seiner Kultur determinierte, sondern diese Wissenschaft war - als romanistische Begleitmusik zum "deutschen Sonderweg" - im Geist der Fichteschen Reden an die Deutsche Nation um 1830 von Friedrich Diez an der Bonner Universität - als Kriegsmaschine gegen die französische Kultursuprematie entworfen worden. Der Hass auf Frankreich loderte in den Rängen der deutschen Romanisten, und die vereinzelten Stimmen liberalerer Forscher meist und fast ausschließlich jüdischer Herkunft wie Erich Auerbach und Leo Spitzer blieben absolut marginal.
Für die Romanistik hatte das Versäumnis der Aufarbeitung ihrer Fachgeschichte die Konsequenz, dass von denen, die nach 1945 einfach weitermachten, bis heute das Diezesche Konzept nicht hinterfragt wurde, sondern institutionell weiter geschleppt wird, ja, nach dem Fall der Mauer sogar in der ehemaligen DDR rekonstruiert wurde, woraus sich erklärt, dass so gut wie kein Dialog zwischen deutschen Romanisten und französischen Literatur- und Kulturwissenschaftlern stattfindet, da diese mit dem Romanistik-Konzept nichts anfangen können. Noch verhängnisvoller: mit der Verdrängung der antirepublikanisch-antifranzösischen Vergangenheit und dem Abhandekommen des "Erbfeindes" sowie dem Ersatz der einstigen Hass-Faszination durch banalisiertes Mit- und Nebeneinander hat die Romanistik ihre einstige politische Bedeutung verloren Das hat sie so sehr ins Abseits getrieben, dass das Fach selbst heute vor seinem Exitus steht, ohne dass erkenntlich wäre, was an seine Stelle treten könne, und dass zum anderen die Rezensenten der Tagebücher Klemperers nichts mit seiner Tätigkeit als Romanist anfangen können, was von jenem Verlust an geschichtlichem Wissen hinsichtlich des deutsch-französischen Verhältnisses und damit des "deutschen Sonderwegs" zeugt, der beide Nationen in eine neue Form der Entfremdung geführt hat.
Victor Klemperer war nicht nur der assimilierte Jude, der zwar als Wissenschaftler unerheblich, aber als unermüdlicher Tagebuchschreiber der genaue Beobachter des täglichen Lebens (speziell in der Nazi-Zeit), das jüdische Nazi-Opfer, das physische und psychische Torturen zu ertragen hatte, das in Todesangst lebte, das gedemütigt wurde, das dies alles mutig und unermüdlich aufschrieb, oder der auf die gesellschaftliche Anerkennung seiner Frau eifersüchtige Ehemann, der Ehrgeizling, ja, Opportunist und Feigling und mit alledem ein einzigartiger Zeitzeuge, den die Rezensenten je nachdem sympathisch oder unsympathisch finden und der (laut Hermann Rudolph im Tagesspiegel vom 24. März 1999) "die Teilnahme an einem anderen Leben" ermöglicht hat und "eines der großen Selbsterforschungs-Abenteuer der Literatur" eingegangen ist, das mit seinem letzten Teil nach Auskunft von Elisabeth Bauschmid nicht als Zeitzeugnis, sondern nur als "das Drama eines in seinem Sein tief verletzten und darum zerstörerisch ehrgeizigen Menschen" gelesen werden darf, von anderen - wie Volker Ullrich in der ZEIT vom 25. März - hingegen für ein so wichtiges geschichtliches Zeugnis gehalten wird, dass man "künftig über die Frühgeschichte der DDR nicht mehr urteilen" könne, "ohne Klemperers Tagebücher zu kennen."
So gut wie ganz ausgeblendet bleibt aus der Flut von Besprechungen der eigentliche Lebensinhalt dieses Individuums. Nur ganz selten räumen die Rezensenten dem umstrittenen Individuum das Recht auf seine eigene, komplexe und völlig normale Widersprüchlichkeit ein, stimmen dafür aber in einem Punkt überein: in der Ahnungslosigkeit hinsichtlich seiner politisch-sozialen Funktion als Romanist, die Klemperers Leben bestimmt. Über diese gehen sie mit Floskel hinweg, die vom "großen" bis zum bedeutungslosen "kleinen Romanisten" reichen, von dem aber niemand etwas gelesen hat.
Das ist umso verhängnisvoller, als dadurch unkenntlich wird, dass Victor Klemperer jenes mögliche andere Deutschland repräsentierte, das von den frankophoben Vertretern des "deutschen Sonderwegs" in die Opposition, in die Emigration und am Ende in die physische Ausrottung getrieben wurde und das grundsätzlich frankophil war. Victor Klemperer, der sich bereits als Jugendlicher mit den Voltaire-Studien von David Friedrich Strauß und Hermann Hettners kulturgeschichtlich argumentierender Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert auseinandergesetzt hat, ist ein Vertreter jenes frankophil-aufklärerischen, vielfach jüdischen Bürgertums, das seit 1806 immer agressiver in die politische Opposition und wenig später in die Emigration gejagt wurde und das mit den heutigen Kategorien von "links" und "rechts" nicht richtig erfaßt werden kann, weil die Bejahung der Aufklärung und der Ideale von 1789 auch - wie bei Börne - in der Bejahung der verfaßten Monarchie möglich war.
Nicht, dass der Kriegsfreiwillige Klemperer nicht auch bisweilen hurrapatriotische Töne von sich gegeben hätte. Die das damals - wie Heinrich Mann - nicht taten, waren an den Fingern eines Hand abzulesen und stießen auf den Hass der Mehrheit. Aber er tat es selten und es änderte an seinem grundsätzlichem Glauben an das friderizianisch-voltairianische Preußen und an seinem frankophil-konservativen Bekenntnis zur Aufklärung so wenig wie an seiner Ablehnung des Diezeschen Romanistikkonzeptes, und 1920, unmittelbar nach seiner Ernennung zum Professor an der TH Dresden, plädiert er auf dem Deutschen Philologentag für eine Neubegründung der Romanistik, die in Umkehrung der bisherigen Argumente vom Erkenntnisinteresse an der Gegenwart bestimmt sein müßte. Dass dies von der Mehrheit der Fachgenossen abgelehnt wird, hindert Klemperer nicht, das gigantische Vorhaben selbst in die Hand zu nehmen und mit der Redaktion einer Geschichte der modernen französischen Literatur zu beginnen, die die neuesten Werke berücksichtigen sollte und an einem kulturgeschichtlichen Konzept anküpfte, das von Montesquieu und Hettner bestimmt war.
Unbeschadet der Frage nach der philologischen Validität seiner Texte liegt in diesem monumentalen Versuch der Neubegründung der Romanistik Klemperers einzigartige Bedeutung für diese Wissenschaft: er ist in ihrer (nun) hundertundsiebzigjährigen Geschichte der Einzige, der aus dem frankophil-aufklärerischen Geist des Jungen Deutschland und damit aus der Opposition zum "deutschen Sonderweg" die Wissenschaft im Sinn einer kulturellen Schulung eines Staatsbürger-Bewusstseins, das auf Erkenntnis und Akzeptierung des kulturell Anderen (über die zeitgenössische Literatur) und auf Verständigung mit dem französischen Nachbarn orientiert ist, erneuern wollte.
Statt wenigstens nach dem Erscheinen der Memoiren und Tagebücher seit 1989 über die ideengeschichtliche Bedeutung seiner erst in der DDR 1954 und 1966 erschienenen, absolut einzigartigen Geschichte der französischen Literatur der Aufklärung nachzudenken, ergeht sich eine ebenso süffisante wie geschichtsblinde Kritik in philologischen Beanstandungen und hält Klemperer allen Ernstes vor, Horckheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung aus dem Jahr 1947 nicht berücksichtigt zu haben, eine Kritik, der - nähme man sie ernst - die gesamte französische Aufklärungsforschung zum Opfer fallen müßte, denn die hat durchaus nicht auf Adorno gewartet. Schlimmer aber: noch heute diffamieren Fachwissenschaftler Klemperer. So behauptete die Wuppertaler Romanistin Paola Traverso in der Zeit vom 28. November 1997, Klemperer, der sich 1914 mit einer Arbeit über Montesquieu habilitiert hatte, hätte erst unter dem Nazi-Terror die französische Aufklärung entdeckt, und sie warf dem Gegner des (seit 1806 üblich gewordenen "Erbfeind"-Klischees Klemperer vor, er sei "in der Weimarer Republik" am Zustandekommen des "Bilds" vom "Erbfeind" Frankreich beteiligt gewesen und habe - obwohl "im Ton (...) eher versöhnlich" - mit seinen völkerpsychologischen Studien "Wasser auf die Mühlen des Nationalsozialismus gegossen." Dass Feuilleton-Chefin Sigrid Löffler keine Richtigstellung zuließ und Die Zeit selbst die empörten Leserbriefe von Hadwig und Peter Klemperer nicht abdruckte, rundet das Bild ab.
Das alles ist Realität heute in dem Deutschland, das doch angeblich den "Sonderweg" beendet hat, und dies alles muss man mitbedenken, wenn man das Tagebuch von 1945 bis 1960 beurteilen will, von dem Ullrich, dessen unmotiviertes Rezensions-Ende - "Mögen seine Studien etwa über die französische Aufklärung wichtig und bis heute unterschätzt sein... weiterleben wird Victor Klemperer vor allem als Schreiber seiner Tagebücher." - nur als Ausdruck schlechten Gewissens beziehungsweise Relativierung der Traverso-Affäre verständlich wird, in der Zeit vom 25. März 1999 Antwort erhoffte auf die brennende Frage, "warum der Chronist des NS-Grauens in der DDR ausharren, ja es hier zu einigen Ehren bringen konnte." Die Antwort sei in dürren Worten gegeben: weil Klemperer bis 1933 in Dresden Professor gewesen war, weil er dort ein Haus hatte, weil er gar nicht gewusst hätte, wohin er sonst in dem ausgebrannten Deutschland hätte gehen sollen, weil dort in der Nähe seine Manuskripte versteckt waren, weil man ihn in der SBZ bereits Ende 1945 wieder in sein Amt eingesetzt hat, weil in Deutschland-West alle alten Nazis im Amt geblieben waren, weil man ihn dort sowenig wollte wie die anderen verjagten jüdischen Kollegen, weil man ihn in Fortsetzung der antisemitisch-antifranzösischen Tradition, der er bereits die Diffamierung in der Weimarer Zeit zu danken hatte, im Westen weiter diffamierte und weil sich an diesem Zustand auch nichts ändern sollte. Bis zu seinem Tod. Und über diesen hinaus bis heute.
Deswegen hat man nach der Veröffentlichung der Memoiren und Tagebücher seit 1989 den bequemen Weg der Aufsplitterung seiner Persönlichkeit gewählt, womit nicht nur die heikle Frage nach seiner geschichtlichen Position in der Romanistikgeschichte eskamottiert, sondern bei Bedarf das Opfer wieder zum Täter gemacht werden konnte, was schon damit beginnt, dass man die scheinheilige Frage stellt, wie Klemperer denn in der SBZ beziehungsweise der DDR bleiben konnte und wie - um Gottes Willen - er dort nach Amt, Würden und gesellschaftlichen Aufgaben hat streben können. Bei dieser Fragestellung gerät notwendigerweise das eigentlich Dramatische seiner Tätigkeit in der DDR aus dem Blick, das daraus resultiert, dass sich das weitgehend nicht entnazifizierte Westdeutschland mit dem konservativ-antisozialistischen, gleichwohl aber republikanischen Frankreich aussöhnte, dem Klemperer in vielen Dingen näherstand als dem sozialistisch-kommunistischen, und das erklärt antifaschistische Ostdeutschland, in das nicht nur Klemperer (aus München), sondern eine breite Phalanx von Großen der deutschen Kultur (aus der Emigration) zurückgekommen war, sich mit dem sozialistisch-kommunistischen Frankreich verbündet hatte. Dass dieses Bündnis weitgehend auf dem Papier stand beziehungsweise rhetorischer Natur war, wissen wir und wurde von Klemperer nach und nach ebenso registriert wie die Tatsache, dass die kulturelle Orientierung in Richtung Sowjetunion erfolgte, was auch Konsequenzen für die Romanistik in der SBZ hatte: sie wurde mit anderen Vorzeichen nach und nach politisch so irrelevant wie in Deutschland-West.
Das galt auch für die jungdeutsch-aufklärerische Position des Romanisten Klemperer, mit dem auch dieses realsozialistische Deutschland - zu seinem Unglück - nichts anzufangen wusste, was Klemperer früh zu spüren bekam, wie sein Tagebuch zeigt. Da denunziert ihn 1949 Stephan Hermlin bei der Neuauflage seiner Modernen französischen Lyrik von 1870 bis zur Gegenwart als bourgeoisen Ignoranten, ohne dass Klemperer antworten darf, was alle möglichen Figuren im Verlags- und Zensurbetrieb, die seine Schriften "gefährlich" finden oder bezweifeln, ob sie in den "realen Humanismus" passen, veranlasste, ihm in seine Texte hineinzupfuschen oder deren Erscheinen zu verhindern, was zunächst die Neuauflage seiner Modernen französischen Prosa von 1923, dann aber auch die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts trifft. Da wird sein Auerbach-Aufsatz unterdrückt und sein LTI verstümmelt, da sabotieren Huchel und Becher einen Maupassant-Artikel für Sinn und Form, da wird er als Antimarxist angegriffen, da wird seine Französische Epik "gereinigt" und seine Französische Lyrik "castriert", usw.: "Vielleicht ist es gut", schreibt Klemperer, "dass ich mich jetzt mit aller Publikation zurückhalte. Bis der Wahnsinnscurs unserer Censur u. Kulturpolitik überwunden ist."
Klemperer wird sich nicht zurückhalten. Im Gegenteil: er schmuggelt liberales Gedankengut ein, wo immer er kann. Hier einen Aufsatz gegen die Lingua Quartii Imperii, LQI, die Sprache der kommunistischen Apparatschiks, das "Kaderwelsch", hier ein Plädoyer für den Zugang zu allen französischen Zeitungen wie Le Monde oder für die "bürgerlichen" französischen Schriftsteller, und wenn sich Klemperer umgekehrt auch in Werke linker französischer Autoren wie Barbusse, Aragon und Eluard einarbeitet, bleibt sein kulturpolitisches, am Jungen Deutschland und am Vormärz bzw. Spielhagen geschultes Credo doch von allem Anfang an von dem sowjetischen Modell untangiert. Ja, er lehnt nicht nur die Theoreme des "sozialistischen Realismus" ab, sondern er unterminiert sie auch auf seine Schwejksche Art: "ich muß immerfort wiederholen: Lukács, das concentrierte Gegengift aesthetischer Betrachtung, aber eben nur Gegengift; wieso die ungemeine Ungerechtigkeit gegen Gutzkow, Spielhagen, Zola? Man betet da stur Engels-Marx nach. Und welche Enge, dass der Dichter nur seine eigene Klasse zu schildern vermag! Überhaupt steht hier Klasse wie bei den Nazis Art steht. Das gehört in meine LQI u. darf nicht gesagt werden."
Die Tagebücher zeigen nicht nur so unmissverständliche Äußerungen, sie belegen auch dass der Konflikt zwischen Klemperer und Werner Krauss ein Mißverständnis war. Während Klemperer versuchte, seine frankophile jungdeutsche Aufklärungsposition in Pulikationen, akademischer Tätigkeit und kulturpolitischem und politischem Engagement wenigstes rudimentär in der Schul- und Hochschulpolitik, im Kulturbund und in der Volkskammer einzubringen, weil er meinte, dies könne zur Liberalisierung einer gutintentionierten, aber dogmatisch-verfehlten antifaschistischen Staatspolitik beitragen, glaubte Krauss, in der Rückbesinnung auf die französischen Quellen des historischen Materialismus einen philosophischen Beitrag zur Überwindung dogmatischer Reduktionismen zu leisten. Was sie beide zunächst nicht merkten, war, dass ihnen - durch die Fixierung auf die Sowjetunion, in der Fehlinterpretation der nationalen Geschichte Deutschlands und speziell der antinapoleonischen Freiheitskriege und in der Missachtung der frankophilen Vergangenheit der (sozialdemokratischen) deutschen Arbeiterbewegung in der DDR - Frankreich abhanden gekommen war. Ganz anders zwar als in Westdeutschland, wo das deutsch-französische Verhältnis in die Banalisierung des Miteinanders mündete, aber doch nicht minder verhängnisvoll.
Zu dieser Zeit war Krauss in Leipzig mit seinen Schülern bereits in politische Schwierigkeiten geraten: Winfried Schröder wurde 1958 ins Gefängnis geworfen, Manfred Naumann als Universitätsprofessor abgesetzt. Werner Krauss flüchtete sich an die Akademie der Wissenschaften, wo er Aufklärungsforschung betrieb, und Victor Klemperer - so beweist es das Tagebuch - hatte alle Hoffnung preisgegeben außer der, dass die DDR vielleicht doch moralisch ein wenig besser sei als die BRD. Was beide nicht ahnten, war, dass sich das deutsch-französische Verhältnis, das sie aus unterschiedlicher weltanschaulicher Perspektive verbessern wollten, in einem wiedervereinten Deutschland zum geschichtsindifferenten Nebeneinander entwickelten sollte, dem auch ihre Wissenschaft, die - bereits in Deutschland-Ost und West ins Abseits geratene - Romanistik zum Opfer fiel.
Victor Klemperer: So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1959, Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 862, 960 S., 98.- DM